Ghost. Train.

Prosa

Meine Hand streift über die reifen Früchte, die perfekt aufgereiht in der Auslage liegen. Dunkelviolett und saftig. Drei für Zwei. Sagt die Verkäuferin. Aber drei waren schon immer eins zu viel. Du bist du zu viel, sagst du und ich weiss nicht was ich darauf antworten soll. Ich habe lange darüber nachgedacht. Hinterher ist es wie vorher. Und nicht immer hätte man es im Nachhinein vorher besser gewusst. Der Zeiger an der Uhr hat sich schon dreimal um seine eigene Achse gedreht und ich sitze hier. Noch immer. Lasse die Zeit verstreichen als hätte ich einen geheimen Vorrat. Irgendwo in Timbuktu. Dabei bist du es, der mal wieder irgendwo hinfährt und nirgendwo ankommt. Du tippst diese einzelnen Worte auf deinem Display. Touchscreen. Aber nur von außen. Und ich versuche mir vorzustellen, wie du dabei aussiehst. Ob deine Oberlippe ein bisschen zuckt, so wie früher und sich dann diese kleinen Grübchen links oben bilden. Direkt neben der tiefen Furche, die dein Gesicht verzaubert, wenn du von Herzen lachst. Ich versuche mir genau das vorzustellen, aber viel wahrscheinlicher ist, dass das nur eine lästige Pflicht für dich ist. Zwischen zwei Terminen. Irgendwo im Nirgendwo. Denn es gibt keinen Empfang in diesem Zug. Und zu deinem Herzen. Sowieso. Nicht. Ich fahre weiter in diesem Ghost-Train. Kopflos. Denn ich habe das Ticket für dieses Rennen gewonnen. Benutzung auf eigene Gefahr. Steht da in großen Lettern. No risk, no fun, denke ich. Und da ich schon mal da bin, lass ich es krachen. Let it rock and let it roll. Ich hätte es wissen können. Aber zwischen wollen und können liegen manchmal eben Welten. Und Kunst kommt nicht immer von Können. Du bist der perfekte Fremde, denke ich. Und du sagst „let´s just keep it like this“.

Ich sitze an meinem Küchentisch und beisse in diese saftig-süße Feige und frage mich, warum Feigen Feigen heissen und warum es deine Lieblingsfrüchte sind.

 

© Julia 

Glasklar.

Prosa

Er starrt aus dem Fenster und nimmt einen kräftigen Schluck Rotwein aus dem angestaubten Glas. Dann wischt er sich mit dem Handrücken die Reste von den Lippen. Der purpurne Rebensaft verästelt sich sofort in seiner trockenen Haut. Er konnte regelrecht zusehen wie seine Haut das flüssige Rot nur so aufsaugte. Es ist, als ob man das Blut fliesen sehen könne, denkt er und nimmt noch einen weiteren Schluck. Denn Blut kann man nie zu viel haben. Gerade er, der in der Vergangenheit so viel davon verloren hatte. Erst hatte ihm jemand das Herz herausgerissen und es triefend und tropfend auf den Küchentisch gelegt und einige Tage später hatte er sich so heftig in den Finger geschnitten, als er versuchte die Scherben, die nun rund um dem Tisch verteilt lagen, aufzuräumen. Nur mit Mühe und Not hatte er es fertig gebracht das Herz wieder an die richtige Stelle zu bringen. Er hatte viel Kleber benutzen müssen, weil es in 1000 Teile zerfallen war und er die einzelnen Ecken und Kanten nicht wieder Eins zu eins aufeinander brachte. Aber jetzt, nach einer gewissen Weile und mit einigem an Rotwein als Blutersatzt funktioniert es fast wie davor. Auch wenn es immer noch ein bisschen schief in der Ecke hängt.

Er hatte ohnehin viel zu selten Rotwein getrunken in der letzten Zeit, stellt er überrascht fest und bewegt das Glas etwas hin und her, sodass er den Staub, der sich im Laufe der Monate auf dem feinen Glas abgesetzt hatte, besser sehen konnte. Er springt ihm sofort ins Auge, der Staub, denn er war ein sehr ordentlicher Mensch. Aber jetzt ist ihm das plötzlich alles egal. Früher hatte er die kristallenen Gläser fast täglich poliert. Zu dieser Zeit hatte er auch noch mehr Rotwein getrunken. Wenn er nach Hause kam, nahm er eine Flasche aus dem hölzernen Regal neben dem Küchenschrank, strich mit dem Daumen sanft über das Etikett ehe er die Flasche mit einem kräftigen Ruck vom Korken befreite. Dann hatte er einen guten Schluck in eines der blitzeblank polierten Kristallgläser aus dem Regal gegeben und gewartet. Denn ein guter Rotwein braucht Zeit. Allein die Trauben brauchen ja mehrere Monate, wenn nicht gar Jahre bis sie wirklich reif und genießbar sind. Manchmal ist sogar eine gesamte Ernte für die Tonne. Das kommt gar nicht mal so selten vor. Das braucht einfach alles seine Zeit. Auch dann, wenn der Wein bereits im Glas ist. Das war ihm immer wichtig. Nichts hasste er mehr, als das überstürzte Trinken eines Weines, der noch nicht genug Zeit gehabt hatte. So vergingen gut und gerne fünfunddreißig bis vierzig Minuten, ehe er das Glas zum ersten Mal an seine Lippen führte.

Wenn sich der samtige Geschmack dann in seinem Gaumen ausbreitete und sich gleichzeitig alles im Mund zusammen zog, war es für ihn eine Offenbarung. Der drückende Knoten, der sich hin und wieder in seiner Kehle breit gemacht hatte und manchmal bis auf die Größe eines Kartoffelknödels anwuchs, verschwand durch diese Prozedur auf wundersame Weise. Wie Butter in der Pfanne, dachte er. Zunächst warm und dann heiß. Ehe es dann plötzlich ganz kalt wurde. Im Herzen. Das war sein Ritual und das war so sehr er, dass ihm erst jetzt klar wird wie sehr er das vermisst hatte.

Er schaukelt den Gedanken noch eine Weile in seinem Kopf hin und her und versucht sich an das Gefühl zu erinnern. Er stellt sich eine Blumenwiese vor und riecht an Apfelbäumen, atmet den Duft von reifen Aprikosen und streicht mit dem Finger abermals über das Etikett. Aber es kommt nicht zurück. Seine Sinneszellen schaffen es einfach nicht die Reize zu übertragen. Und je mehr er darüber nachdenkt, umso weiter rückt das Gefühl in die Ferne. Der Eindruck entsteht doch im Kopf, sagt er sich und vielleicht liegt es ja genau daran. Was weiss er schon, was da zwischen Thalamus und Großhirnrinde passiert? Bei ihm irgendwie so gar nichts.

Er starrt aus dem Fenster und nimmt einen kräftigen Schluck Rotwein aus dem angestaubten Glas. Auch ein weiterer Schluck konnte nichts an der Tatsache ändern. Er lässt seinen Blick über den Tisch hinaus zum Fenster wandern. Die vielen, winzigen Regentropfen ergeben zusammen einen grauen Schleier vor seinem inneren Auge. Er kann gar nicht mehr klar sehen und ist sich nicht sicher, ob das an dem Staub oder an dem Regen liegt. Alles verschwommen. Vielleicht doch der Wein? Da fällt es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. Glasklar. Als ob es nie eine andere Wahrheit gegeben hätte. Denn nicht ohne den Kopf kann man nicht richtig denken, sondern ohne das Herz. Er springt auf und läuft in die Küche um nachzusehen ob, sein Herz noch auf dem Küchentisch liegt.

 

© Julia

11,2 ° C

Prosa

Ich sitze am Küchentisch und knibble etwas Haut seitlich von meinem Daumennagel. Ein Zeichen, dass es wieder Herbst ist. Dazu brauche ich nicht einmal raus zu gehen, um all die Blätter auf den Straßen zu sehen und all die Menschen mit ihren dicken Schals. Ich weiss das, weil ich es spüre. Nicht nur, weil die Luft anders riecht und ich wieder mit Bettsocken schlafen muss. Nein auch, weil diese verdammte Nagelhaut wieder so trocken ist. Da kannste cremen wie du willst, die ist einfach so staubtrocken. Wie ein Sandsturm in der Wüste, plötzlich da, obwohl du vor gerade einmal drei Wochen in Flipflops durch die grüne Oase gelaufen bist. Die Zeit ist einfach gnadenlos. Drei Wochen im Sommer sind drei Wochen. Aber im Übergang von Sommer zu Herbst, dieser undefinierbaren Zwischenjahreszeit, entsprechen drei Wochen drei Monaten. Die Zeit rast, oder es kommt einem nur so vor, weil sie im Sommer ja immer still steht. Sie rast und mit ihr die Gedanken, die in jede noch so verästelte Vene strömen. Ehrlicherweise hat man nach dem Sommer auch gar keine Lust mehr, auf jeder Welle zu surfen. Und es gibt auch kein kühles Bier mehr, mit dem man aufkommende Gedanken hätte hinunter spülen können. Es gibt nur kühle Luft, davon aber reichlich und die trocknet alles aus, nicht nur die Haut auch das Herz, welches vor ein paar Wochen noch purpurrot und saftig pumpte als gäbe es kein Morgen. Barfuss und mit dem Herz in der Hand nach Hause tanzen, bis die Wolken lila sind. Aber natürlich gibt es immer ein Morgen. Und heute sieht dieses Morgen schrumpelig und vertrocknet aus. Es ist wieder diese Zeit, in der die Realität so knallhart auf den Küchentisch klopft, dass mein Tee verschüttet als hellbraunes Rinnsal auf die weißen Fliesen tropft. Und wenn du nicht aufpasst, mit deinen Wollsocken, dann bist du schneller ausgerutscht als dir lieb ist.

Der Herbst ist so fies, weil er so gnadenlos ehrlich ist. So pur und irgendwie auch echt. Denn mit all den Blättern fällt auch meine Maske. Und deine. Die Wahrheit ist ja manchmal so verrückt, dass sie keiner glaubt. Vielleicht, weil wir vernebelt sind von all dem Weichspüler in unseren Acne Schals oder weil wir lieber Lügen glauben, so lange sie sich gut anfühlen.

Weisst du, die Sache ist ja die, dass du nicht da bist, wenn es Herbst wird. Dass du immer hier bist und dort, aber nie da. Wenn das Kissen neben mir kalt ist und mein Herz bis zum Hals schlägt. Da hast du leicht reden, denn Herbst ist ja nicht nur ein Gefühl, sondern real. Denn nur Sommer ist, was in deinem Kopf passiert. Und hier passiert gerade gar nichts, außer der Tatsache, dass lauwarmer Tee von meinem Küchentisch tropft und fast gefriert bevor er den Boden erreicht, weil die Luft so kalt ist. Weil zwischen Wollpullover und Flatterkleidchen immer noch ein Spalt breit Platz ist. Weil meine Türe immer noch einen Spalt weit offen steht. Du blockierst den Durchgang, verstehst du das? Im Sommer ist so ein bisschen Durchzug zuweilen ja noch ganz angenehm, aber jetzt, im Herbst kann solch einen eisigen Windhauch wahrhaftig niemand gebrauchen.

Das Thermometer zeigt 11,2 ° C und das ist Sommer im Vergleich zu der Kälte im Herz. Aber es sind auch 11, 2 ° C vom Gefrierpunkt entfernt und wenn wir dein und mein Herz zusammen tun, dann kommt dabei vielleicht so etwas wie Herbst heraus.

Ich drücke meine Nasenspitze an das kalte Küchenfenster und male mit dem Zeigefinger ein Herz in das kondensierte Nass. Die Tür fällt ins Schloss und ich spüre einen kühlen Windhauch in meinem Nacken.

 

© Julia

Tomatensalat ohne Tomaten.

Kolumnen

Mit dem Alter ist das ja so eine Sache. Ist man jung, macht man sich kaum Gedanken darüber, ist man alt, macht man sich ganz viele Gedanken darüber. Dazwischen eine beachtliche Anzahl an Jahren, die sich Leben nennt. Ich persönlich ging mit zarten 16 Jahren davon aus, dass man mit 30 alt ist. Alt im Sinne von erwachsen und allen Klischees, die halt so dazugehören. Ein fester Job, einen festen Freund und ein Zuhause, das nicht aus einem Kleiderhaufen und einer Spüle voller dreckigem Geschirr besteht. Bei mir sind die angetrockneten Pastareste auf meinem Teller manchmal das einzige, das fest ist. Immerhin aber auf einem ASA Teller. Das Schöne am Älterwerden ist ja, das man sich mit einem regelmäßigen Einkommen, das auf ein festes (yeah) Konto überwiesen wird auch mal etwas leisten kann. Und sei es nur einen schönen Teller auf dem die Frust-Pasta nach einem stressigen Bürotag gleich doppelt so gut schmeckt oder eine spontane Flugbuchung. Ganz nach dem Motto: Augen zu. Karte durch. Und das, ohne danach Spaghetti mit Ketchup als (s)eine Hauptmahlzeit betiteln zu müssen, weil am Ende des Geldes noch so viel Monat übrig ist. Dieses ganze Geld- und Job-Gehabe hat schon auch seine Annehmlichkeiten – wie man´s dreht und wendet, ein bisschen Freiheit kann man sich schon kaufen. Irgendwie. Aber vielleicht braucht man sie auch mehr als zuvor, als die Tage aus Kaffeepausen zwischen Seminarschwänzen und Semesterferien bestanden.

Die angetrockneten Pastareste auf meinem Teller sind manchmal das einzige, das fest ist.

Eine Sache, die aber immer wieder ins Bewusstsein rückt ist die Tatsache, dass man gewisse Dinge erst zu schätzen weiss, wenn sie vorüber sind. Das ist irgendwie urmenschlich. So sehr, dass ich manchmal an die Schulzeit zurückdenke und mir in den Sinn kommt, dass es gar nicht mal so übel war, um 13 Uhr nach Hause zu kommen und nach Mamas Mittagessen (das natürlich nie das Richtige war) ein bisschen Hausaufgaben zu machen. Neulich bin ich spät aus dem Büro gekommen und noch im Flur über eine dunkelblaue Kiste gestolpert, die ich hätte eigentlich längst in den Keller räumen wollen. Neben ein bisschen Staub, wirbelten die herausfliegenden Fotos auch einen Hauch Vergangenheit mit auf. Abifeier. Urlaub 2008 in Griechenland. Zeltlager 1999. Abendessen mit den Mädels 2010. Kurztrip nach Paris 2015. Immer wieder ich. Immer wieder anders und doch irgendwie ich. Und gar nicht mal so übel. Ich muss schmunzeln, weil ich mich noch genau daran erinnere, wie unglaublich hässlich mich in diesem Bikini am Strand von Kreta gefühlt hatte und meine verquollenen Augen als Relikt eines Heulkrampfes nur hinter einer riesigen Sonnenbrille verstecken konnte. Das Kleid, in dem ich partout nicht das Hotel verlassen wollte. Oder das Essen mit den Mädels. Für mich bitte einen Tomatensalat ohne Tomaten. Weil mal wieder (vermeintlich) ein paar Pfund zu viel über den Bund der Skinny Jeans ragten. Und nun bin ich dreißig und nehme und ersten Mal mein Alter bewusst wahr. Zum einen, weil einem das permanent suggeriert wird und man sich dadurch selbst unnötig Stress macht. 30 hier. 30 da. Oh, oh, helft-mir-über-die-Straße-dreißig. Nein und besonders auch, weil ich zum ersten Mal die Zeichen der Zeit spüre. Wenn ich morgens aufwache, legen sich feine Linien um meine Augen und ein (naja, zwei) graue Haare winken mir aus dem Spiegel entgegen. Aber auch innerlich, weil mein Arzt mir zu gewissen Vorsorgeuntersuchungen rät.

Und nun bin ich 30 und nehme mein Alter zum ersten Mal bewusst wahr

Da sitze ich also spätabends in Bürokluft in meinem kalten Flur auf dem Fußboden und denke, wie schön ich doch in dem Bikini am Strand von Kreta aussehe. Wie toll das Kleid in dem Café in Paris zur Geltung kommt und wie gut meine Jeans auf dem Foto mit dem Mädels sitzt. All das habe ich zu den Zeitpunkten, in denen die Bilder entstanden sind niemals so gesehen. Jetzt, Jahre später erkenne ich die Schönheit dessen, was ich damals verteufelt habe. Ich lasse meine müde Augen zu der Kommode im Esszimmer wandern. Dort stehen die Worte „all we have is now“ gerahmt in schwarzem Holz. Und Kinners, so ist es. Das Älterwerden macht es unglaublich schwer, im Moment zu leben. Weil es so vieles zu beachten und zu erledigen gibt und ein Moment den nächsten jagt. Wir sollten viel mehr schätzen und würdigen, was wir haben. Jetzt und immer. Ich hatte den tollen Glow, den ich vor sieben Jahren hatte nie als solchen wahrgenommen. Und ja, älter zu werden spiegelt sich sowohl im Aussehen, der Gesundheit und zum Glück auch im Gedankengut wider. Im Herzen des Älterwerdens steht doch – neben der zuweilen melancholischen und wunderschönen Retrospektive – eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst. Und wenn die Aktivierung dieser Gedanken dazugehört, dann werde ich gerne älter. Wenn nicht gar alt. Und wenn ich in 20 Jahren ein Foto von mir betrachte, wie ich hier auf dem Fußboden im Flur sitze und Fotos in der Hand halte, werde ich denken, mensch, was war ich jung und wie glücklich sah aus. Ich hatte ja keine Ahnung. Und das hatte ich tatsächlich nicht.

Manchmal finde ich meine Hände etwas schrumplig und dann denke ich daran, was die schon alles getragen, gehalten, gestreichelt, gebacken, umgetopft, geknetet, gewaschen, gestriegelt, herausgezogen, entdeckt, berührt und losgelassen haben. Ich bin dann nicht mehr traurig und lächle meinem Spiegelbild entgegen und freue mich über jede einzelne Minifalte, die mich zu dem Menschen macht der ich bin. Mit allem Erlebtem, Erfahrenem und Widerfahrenem. Das ist ja eigentlich selbstverständlich. Aber man kann es nicht oft genug sagen.

Wer definiert denn eigentlich, was alt und was jung ist? Am Ende sind das ja alles bloß Zahlen. Und die sind ja bekanntlich unendlich.

 

© Julia

Löwenherz.

Prosa

Für einen Abend im Frühling ist es nicht besonders mild. Aber auch nicht besonders kalt. Irgendwas dazwischen. Der Typ hinter der Bar schiebt zwinkernd zwei Flaschen Bier über den Tresen. „Da bist du also“, sage ich und proste dir zu. Der kühle Hopfensaft rinnt wohltuend die Kehle hinab. Du lächelst und es fühlt sich nach so langer Zeit wie immer an. Als hätten diese sechs Jahre nicht stattgefunden. Einfach übersprungen. Wir reden seit Stunden über ein Leben, das nicht unseres ist. Buchstaben reihen sich aneinander und werden zu ernsthaften Worten. Erwachsen geworden sind wir. Irgendwie. Trunken und taumelnd in Erinnerungen stelle ich fest, dass dein Herz gar nicht so kalt ist wie das Bier in meiner Hand. Sag mal, können wir nicht einfach Stopp drücken und zum Anfang zurückspulen?

Du erzählst mir von diesem dunkelgrünen Jeep mit hochklappbaren Türen. Deinen Touren durch die Welt. Den Bergen und Seen. Der Sonne und dem Regen. Und ich möchte dir für immer zuhören. Deinen Geschichten lauschen von Kämpfen mit Löwen, von der Wildnis und von deinen Narben. Weil deine Stimme für immer Musik in meinen Ohren ist. Weil in deiner Brust ein Löwenherz schlägt. Ich weiss das, weil ich es schon einmal von innen gesehen habe. Rot und weich. Zerbrechlich wie ein Straußenei. Aber nachts sind alle Katzen schwarz. Du bist der Held deiner ganz persönlichen Safari und selbst Sandstürme gehen spurlos an dir vorbei, mag man meinen. Aber ich weiss es besser. Und manchmal möchte ich einfach dein Herz in die Hand nehmen und es an einen sicheren Ort tragen. Dabei bin ich das Löwenbaby, das mit einem sanften Nackenbiss in Sicherheit gebracht werden muss. Bleibst du hier, bis der Morgen graut?

Die Nächte sind immer so kurz und ein Morgen haben wir nicht. Du bist weg und ich bin hier und manchmal bin ich weg und du hier. Ich lasse eine Münze durch den schmalen Schlitz fallen und drücke den schmierigen Hörer fester an mein Ohr. Weitere fünf Minuten knackendes Rauschen, das durch gleichmäßigen Atem unterbrochen wird. Ich brauche eine Stunde um hallo zu sagen und für all die Münzen, die in meiner schweißnassen Hand kleben bekommen wir nicht einmal eine Sekunde zum Reden.

Aber wenn wir das jetzt hier nicht zusammen durchziehen, wie können wir dann leben? Können wir dann überhaupt atmen? Mit all dem Sand in der Lunge? Wir können uns nicht zurücklassen. Straußeneier haben kein Verfallsdatum. Weisst du, ich war in so vielen Zoos und habe sämtliche Tierarten auf verschiednen Kontinenten beobachtet nur um festzustellen, dass Löwen meine Lieblingstiere sind.

Und nun brennt die Sonne klar und heiß in mein Gesicht, dass der Schweiss nur so rennt und ich zwischen all der Hitze nicht merke, dass es Tränen sind, die im sandigen Boden verpuffen. Bevor hier Herzen in Flammen aufgehen – lass uns mit deinem Jeep in die Wüste fahren und den Sand alles ersticken bevor wir Fata Morgana sagen können.

Und wenn ich dich noch einmal umarmen könnte – mit Haut und Löwenhaar – ich würde dich nicht mehr loslassen. Das ist ein Versprechen. Weil ich nicht mehr ohne dich sein kann. Du bist die Safari meines Lebens.

 

© Julia

Patina.

Prosa

Dein linkes Augenlid zuckt etwas – wie immer, wenn du nicht weiss was du sagen sollst. Aber ganz viel sagen möchtest. Von innen heraus. Schweigen wird dann zu einer Option, die dir zumindest kurzfristig Linderung verschafft. Diese ganzen chemischen Prozesse – manche sagen auch Gefühle dazu – waren noch nie deins. Lieber gehst du ein bisschen Holz haken, wenn es etwas pikst in der Brust. Das ist ziemlich praktisch, denn nach ein paar Stunden ackern mit dem Beil geht dieses Piksen auch gut und gerne als Muskelkater durch. Du hast gern die Kontrolle, über alles und jeden und am allerliebsten über dich selbst. Dein Körper ächzt und krächzt, dein Herz pumpt so sehr, dass selbst du dessen Existenz nicht leugnen kannst. Tropfnass sitzt du da und dein Auge zuckt und zuckt und bei all dem Schweiß fallen auch die Tränen nicht auf, die sich klammheimlich unter seine Artgenossen gemischt haben. Ich kaufe einen großen Seifenkanister und versuche den Boden zu reinigen auf dem du deine Spuren hinterlassen hast, denn Blut und Wasser schwitzen ist eben doch nicht nur eine Redewendung. Der weiße Lappen saugt sich voll mit der roten Flüssigkeit und ich schrubbe und schrubbe, aber der Abdruck will nicht verschwinden. Wie reingebrannt. Die Sonne hat das Holz drum herum gegerbt und nur die Stelle, auf der du zusammengesunken und tropfnass gekauert bist, bleibt hell zurück. Es ist wie, wenn du ein Möbelstück nach Jahren von seinem gewohnten Platz verschiebst. Dann knarrt nicht nur der Dielenboden ganz fürchterlich, sondern dann bleiben da auch immer diese hellen Streifen zurück. Du bist mein heller Streifen. Aber man kann Möbel natürlich nicht für immer an ein und demselben Ort stehen lassen. Irgendwann muss man sie auch mal verrücken – und sei es nur um zu putzen, oder die Nachbarn zu ärgern. Ich fahre mit dem Finger über das helle Holz und bin überrascht wie glatt es an dieser Stelle ist. Als wäre der Boden das perfekte Pendant zu dir. Denn wenn man ein bisschen, nur ganz minimal, an der Oberfläche kratzt, dann spürt man die unebene, wunderschöne Patina zwischen all den Splittern. Dann möchte ich dich so gerne umarmen. Mit all deinen Sorgen und Ängsten, die dich wie ein unsichtbarer Kokon umhüllen. So richtig fest, weisst du. Aber dafür sind meine Arme viel zu kurz.

 

© Julia

Grenadine.

Prosa

Ich sitze im Schneidersitz vor dem Fenster und pule die Fusseln von meinem Wollpullover. Manche Dinge kann man ganz einfach abstreifen. Kleidung, Manieren oder eben Fusseln. Dein Geruch hingegen steckt ganz tief in meiner Nase. Ich beiße immer wieder in das Stück Zitrone in meinem Tee, obwohl mir jedes Mal die Gesichtszüge entgleisen aufgrund der Säure. Überhaupt mag ich süß viel lieber als sauer. Oder scharf. Mitohne. Immer. Du.

Wenn der Wind aus Südwest weht, drücke ich mein Ohr ganz fest auf deine linke Brust und lausche dem Konzert der Bässe. Unter all den Muskeln und Haaren schlägt tatsächlich ein Herz und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass es das nur mich tut. Für uns. Für diesen einzigen Moment Ewigkeit.

Die Jahre vergehen, aus Rosa wird Rot und alles bekommt mehr Farbe. Die Bäume mehr Ringe und die Linien um unsere Augen werden tiefer. Ich solle nicht in der Vergangenheit leben, sagen sie. Aber was ist, wenn du meine Zukunft bist? Wenn du alles bist, was dieser jämmerlichen Anhäufung von Zellen einen Sinn gibt? Nicht, weil ich mir das so ausgesucht hätte, sondern weil es so ist. Verstehst du, wie das unangenehme Stechen, wenn man zu hastig ein Getränk mit zu viel Kohlensäure trinkt. Ein kurzer, fieser Schmerz, der dir die Luft zum Atmen nimmt und sich bis in den Magen ausbreitet. Bloß Millisekunden – dann ist es vorbei. Und du wirst es immer wieder tun, weil der Mensch ja nun mal trinken muss. Und sind es nicht immer die Sekunden im Leben, die es zu dem machen, was es ist. Aneinandergereihte Entscheidungen, Zufälle – vielleicht alles ein perfider Plan? Wer weiss das schon. Hat man denn überhaupt eine Wahl? Ich hätte links abbiegen können. Dann hätte es dieses kleine Lächeln nicht gegeben. Diese zwei Sekunden, nach denen nichts mehr so ist wie es war oder sein wird. Und immer wenn ich die Liebeskarte ziehe, ist dein Antlitz darauf zu sehen – dabei führen so viele Wege nach Rom. Die staubige Landkarte liegt seit Jahren verknittert im Handschuhfach. Es fühlt sich immer noch so an, als ob die beste Zeit unsere war. Deine Hand auf meinem Knie und warmen Wind in den Haaren. Der hat sich ganz fies in den Gehirnwindungen verfangen und heute beschlägt meine Brille, weil meine Gedanken so heiß laufen.

Und dann esse ich mitten im tiefsten Winter diese ökologisch völlig inkorrekten Heidelbeeren, um wenigstens ein bisschen etwas von dem verblassten Gefühl einfangen zu können und dann schmecken sie mir nicht einmal. Weil keine Zeit für Romantik bleibt, weil du gelernt hast dem Wind zu trotzen auch wenn dir dieser verdammte Spiri-Tee sagt, du sollst auf dein Gefühl vertrauen und du es aber partout nicht finden kannst zwischen all den Splittern. Dann sitze ich mit roten Granatapfel Spritzern auf meinem weißen T-Shirt da, was eigentlich deins ist. Und stelle fest, dass es mein Herz ist, das übergelaufen ist. Keine Spuren des Liebesapfels. Ich eile auf den Balkon, weil es nur so quillt und spritzt und die Sauerei will ja auch immer keiner aufwischen. Purpurne Tropfen auf weißem Schnee. Schneewittchen. Ist die nicht an einem Apfel erstickt? Weisst du, ich vermisse dich manchmal so sehr, dass ich das Gefühl habe zu ersticken, obwohl ich keine Äpfel esse. Nicht im Winter und auch sonst nicht. Aber das Gefühl von dem warmen Wind in meinen Haaren, das werde ich nicht los. Und immer wenn der Wind aus Südwest weht, drücke ich mein Ohr ganz fest auf deine linke Brust und lausche dem Konzert der Bässe. Unter all den Muskeln und Haaren schlägt tatsächlich ein Herz und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass es das nur mich tut. Für uns. Für diesen einzigen Moment Ewigkeit.

 

© themagnoliablossom

Schnitzeljagd.

Prosa

Ich puste die Kerze aus und wünsche mir, dass alles gut wird. Weil ich das immer tue. Ein bisschen Vertrauen müsse ich schon habe, hast du zu mir gesagt, wenn kristallklare und salzige Tränen über meine kalten Wangen liefen – ein bisschen mehr Vertrauen. In das Leben. Allgemein und im Speziellen. Jetzt wo du nicht mehr da bist, fällt mir das sehr schwer. Vertrauen also, sage ich leise und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Wenn sich das Jahr dem Ende neigt, wenn die Bäume ganz schleichend kahl werden und ganz plötzlich Winter ist, kommen auch die Gedanken. An das was da war und ist und noch kommen mag. Was noch vor ein paar Monaten hinter luftigen Kleidchen und Sonnenbrillen verborgen blieb, was durch dieses angenehme Kribbeln nach einem eiskalten Bier hirntot gemacht wurde, ist auf einmal so real und so da wie der erste Frost. Er macht es einem nicht leicht, der Winter. Ich wünsche mir eine fein pudrige Schneedecke, die all das ganz lautlos umhüllt. Sanft und schützend. Der eisige Wind peitscht mir um die Ohren und ich gehe tapfer weiter. Vertrauen, also.  Ich ritze deinen Namen auf eine angefrorene Autoscheibe und komme mir dabei wie ein Teenie vor. Damals konnte ich nicht glauben, dass es nach dem ersten Liebeskummer jemals wieder besser würde. Dass dieses Ziehen in der Brust und diese ständige Übelkeit jemals aufhören würden. Alles geht vorüber und es geht immer weiter. Und manchmal macht mich das traurig. Weil man gar nicht mehr innehält, genießt und jeden noch so kleinen Moment konserviert und das Traurigsein auch mal so richtig zelebriert. Menschen kommen und gehen. Manche hinterlassen Spuren, andere Lücken.

Und dann gibt es dich. Eine unendliche Schnitzeljagd über meinen gesamten Körper durch all die Krater und Täler. Von Zeit zu Zeit werden die so kräftig durchgespült und das salzige Wasser rundet die spitzen Ecken etwas ab. Die stechen dann nicht mehr so in die Eingeweide. Das ist gut. Menschen kommen und gehen. Aber was ist, wenn manche Menschen nicht gehen? Wenn sie da sind, obwohl sie fort sind? Erinnerungen, konservierte Gerüche, Berührungen, die sich ganz fies auf die roten Blutkörperchen krallen und mit jedem Herzschlag im ganzen Körper verteilt werden. Ist das überhaupt erlaubt? Oder läuft das schon unter Doping? Du schaust jeden Tag in den Spiegel und nichts ist anders. Und dann entdeckst du zwischen all dem Müll ein altes Foto und realisierst, dass alles anders ist. Das Gehirn ist sowas von machtlos gegen das Herz. Eine Farce.

Manchmal, wenn ich durch ein Möbelhaus schlendere, ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass sich dies oder jenes gut in unserem Haus machen würde. Eine Vase für die Vitrine im Flur oder ein neuer Bezug für das Kissen auf dem alten Sessel. Es ist nur ein kurzer, unüberlegter Moment. Ich streiche gedankenverloren über die Sofabezüge, fühle den Stoff der Bettwäsche und wünsche mir mit dir in den Laken zu liegen. Den Duft deiner Haare einzuatmen und meine Gesicht ganz fest an dein linkes Schulterblatt drücken. Einfach so. Aber so einfach ist das natürlich nicht.

Anstatt der Bettwäsche kaufe ich eine große Packung Kerzen. Bei jedem Auspusten werde ich sagen alles wird gut. Und es auch glauben. Denn mit Kerzen ist es ja so wie mit Erinnerungen. Man kann nie genug davon haben.

 

© Julia

 

 

Geschmolzene Butter.

Prosa

Es riecht nach geschmolzener Butter als ich meine Augenlider öffne. Die Türe ist genau einen Spalt weit auf, so dass ich dich vor dem Herd stehen sehe. Es gibt wenig, was mehr Wohlgefühl in mir auslöst als der Geruch von geschmolzenem Fett. Goldgelb in der Pfanne, riecht es nach Kindheit, Heimat und ganz viel Liebe. Was heute verteufelt wird, war früher das besondere Etwas. Die Zeiten ändern sich, denke ich mir und ich strecke einen Zeh unter der Bettdecke hervor. Das Herbstlicht blitzt zwischen den leichten Vorhängen hindurch und taucht dich ein wunderschönes Licht, fast golden – wie die Butter. Du trägst nur deine karierte Boxershorts und wenn du dich auf Zehenspitzen stellst, um an den Zucker ganz oben im Regal zu kommen wird aus deinen Waden eine Berglandschaft. Du schlägst vier Eier in eine Schüssel und gibst etwas von dem Zucker dazu. Als du bei dem Mehl angelangt bist, wirbelst du ein bisschen zu heftig mit deinem Schneebesen umher, sodass meine Sicht durch eine riesige Mehlwolke versperrt wird. Ich muss kichern, rolle mich auf die Seite und stelle mich schlafend. Nur ungern möchte ich dich bei deinen Vorbereitungen stören. Es zischt als der Teig langsam in die Pfanne gleitet. Mit einem Schwung versuchst du den Fladen zu wenden. Dein Oberarm spannt sich dabei so herrlich an, dass mir ganz warm wird. Ziischhhh – die zweite Kelle Teig findet ihren Weg in das heiße Fett. Es riecht so unglaublich gut, dass ich am liebsten sofort aufstehen möchte und davon naschen. Von dir. Du brühst Kaffee auf und streichst dir mit deiner Mehlhand durch die Haare. Hey, sag mal weisst du eigentlich, wie schön du  bist, denke ich mir noch  – ganz benebelt von all den Gerüchen – sage ich aber dann doch nicht. Du gießt Ahornsirup über den in Fett gebackenen Teig und ich habe noch nie solch schöne Pfannenkuchen gesehen. Ich schnappe mir die Croissants und setze mich im Schneidersitz auf das Bett. Voller Mehl und mit Sirup um den Mund stellst du das Tablett auf den kleinen blauen Tisch. Du machst eine Kunstpause und drehst dich mit einem Ruck zu mir, wirfst mich in die Laken zurück und drückst mir einen Kuss auf den Mund. Ich bekomme kaum Luft zwischen all dem Mehl, aber es ist das Süßeste, was ich je probiert habe. Vielleicht liegt das an dem Ahornsirup. Vielleicht aber auch an dir. Ich tauche mein Croissant in die geschmolzene Butter und dann essen wir Kohlenhydrate mit Kohlenhydraten und Fett. Einfach so. Und das ist das Schönste, was ich seit langem gemacht habe.

 

© Julia

Permanent.

Prosa

Als das Flugzeug den Kontakt zum Boden verliert, kribbelt es angenehm in meinem Bauch. Ich mag das Gefühl der Schwerelosigkeit. Die Welt bleibt unter einem zurück und vor einem nichts als die unendliche Weite. Weiß, weich und flauschig. Wie ein handgeschöpftes Blatt Papier –  bereit mit den kühnsten und wagemutigsten Gedanken beschreiben zu werden. Bereit die Tinte des Füllers in sich aufzusaugen. Weil mit einem Mal alles, was mir in den vergangenen Monaten den Kopf zermartert hat, so unendlich klein erscheint. Mit jedem Höhenmeter wird mein Puls ruhiger, die Gedanken im Kopf reduzieren ihre Drehzahl. Hier oben scheint die Zeit still zu stehen.

Alles hat seine Zeit, hast du immer gesagt. Aber Zeit ist doch das, was uns wie Sand durch die Finger rinnt. Dust in the wind. Ich weiss noch genau, wie der Song aus den Lautsprechern tönte und du mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen hast. Damals, in dieser Hütte mitten im Nirgendwo. Da hast du sie auch verflucht, die Zeit. Weil sie gegen uns spielte. Wir hätten uns später kennenlernen sollen, sagtest du und ich hätte dir so gerne geglaubt als eine einzige Träne aus deinen braunen Augen kullerte, die du selbstredend mit einem Wisch aus deinem Gesicht gestrichen hast. Aber vielleicht war es tatsächlich nur der Staub. Staub wie er sich auch auf den Fotos von uns in immer dickeren Schichten niederlegt. Fast lautlos sind die Jahre vergangen. Und das macht mir manchmal Angst. Weil ich die Fotos zwar auf den Dachboden verbannen kann, aber dich nicht aus meinem Herzen. Obwohl ich es möchte, und wie ich das will, aber es scheint wohl Dinge zugeben, gegen die der Mensch machtlos ist. Früher habe ich dagegen angekämpft, heute akzeptiere ich das einfach und das ist so unglaublich befreiend. Weil es jedes Jahr einen weiteren Ring im Stamm ergibt und du mich zu dem Baum machst, der ich heute bin. Die Maserung im Inneren ist so ungleichmäßig, aber gerade das macht sie so wunderschön. Du bist die Ebbe und die Flut, eine Laune der Natur und das war mir nirgends so klar, wie hier oben über den Wolken. Du kommst und du gehst, bist hier oder dort, weil das deine Wurzeln sind und weil das so sein muss. Du kannst nicht aus deiner Haut. Aber würdest du, wenn du könntest?

Es ist ja immer so leicht daher gesagt, aber wenn dann einer kommt und etwas an der Oberfläche kratzt und ein bisschen von dem Lack absplittert, dann wird das Ganze kompliziert. Warum tauchst du eigentlich immer dann auf, wenn es gut ist? Wenn ich den roten Lack perfekt aufgetragen habe – patzerfrei und ultraschnelltrocknend. Wenn mein Leben in geordneten Bahnen verläuft, meine Wäsche immer frisch gewaschen ist und meine Probleme sich auf die Wahl zwischen Kaffee oder Tee zum Frühstück beschränken? Ja, warum eigentlich? Das kann ja wohl kein Zufall sein. Hast du einen Radar, wie der Pilot vor mir im Cockpit und wann immer die Herzchen über meinem Kopf aufpoppen, bekommst du eine Push-Benachrichtigung? Ist das so? Ja? Ich würde dir manchmal so gerne glauben, wenn Worte deine Lippen verlassen, die ich dich noch nie habe sagen hören. Worte, die dich in ein warmes, fast goldenes Licht tauchen. Weil auch dein Stamm deutlich mehr Ringe bekommen hat und ich glaube, würde ich dich jetzt kosten, würde ich das Barrique schmecken. Den Rauch, das Holz und ein bisschen was von der salzigen Meerluft. Die Spuren im Sand sind vergänglich, aber was wirklich wichtig ist, habe ich in Stein gemeißelt –  in dein Herz, mein Lieber, damit du es nicht vergisst, wenn du in den nächsten Sturm ziehst.

Gerade als ich mich im freien Fall befinde und das Kribbeln in meinem Bauch schier unerträglich wird, hat der Pilot das Flugzeug wieder unter Kontrolle. Ich öffne meine Augen und sehe die Lichter unten in der Stadt glitzern. Der Regen prasselt lautlos vom Himmel und läuft schräg über die winzigen Fenster. Vielleicht sind das auch nur meine Tränen. Wer weiss das schon so genau.

Es ist der kurze Moment, wenn aus der Nacht Tag wird, wenn die Sonne den Horizont küsst und es trotz Nebel so unfassbar hell ist. Wenn aus dir und mir uns wird. Verstehst du. Es ist nur für diesen einen kurzen Moment. Und hell yeah, ich würde um die ganze Welt reisen, für diesen einen kurzen Moment.

 

© themagnoliablossom